Eine kleine Nachhilfe in Sachen Lesekompetenz und Argumentation: Worum es bei unserer Kritik am Flaig Vortrag geht — und worum nicht

Dies ist unsere Richtigstellung zur derzeitigen medialen Berichterstattung hinsichtlich unserer Kritik am geplanten Vortrag von Egon Flaig.
Hier findet ihr unsere ursprüngliche Stellungnahme.

Um eine Position erfolgreich anzugreifen, muss man sie erst einmal verstehen — dieser Grundsatz dürfte den meisten Studierenden spätestens nach ihrer ersten Seminararbeit bekannt sein. Solch manche Berichterstattende haben ihn augenscheinlich noch nicht ganz verinnerlicht: Anstatt sich wirklich mit unserer Stellungnahme zum geplanten Vortrag von Egon Flaig [1] zu beschäftigen, beschlossen einige Akteur*innen der Presse, einfach ihren Hang zur Fetischisierung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit auszuleben. 

Dass unsere Aussagen dafür in Formen gepresst werden müssen, in die sie so gar nicht passen, scheint dabei keinen Unterschied zu machen.
 
Neben Berichterstattenden der politischen Rechten, scheint auch Mathias Brodkorb (ehemaliger Minister für Wissenschaft, Bildung und Kultur von der SPD) diese Strategie für seinen Artikel in der FAZ gewählt zu haben. Da Brodkorb vor Erscheinen des Artikels mit uns im Austausch stand, allerdings nur sehr wenig aus unseren ausgearbeiteten Antworten und Richtigstellungen einen Platz in seinem Artikel gefunden hat, beziehen wir im Folgenden noch einmal Stellung zu der dort vorgebrachten Darstellung. 
 
Die von uns veröffentlichte Stellungnahme [1] ist als kritische Auseinandersetzung damit zu verstehen, nach welchen Kriterien die Auswahl von Redner*innen an der Universität getroffen wird und getroffen werden sollte. Dass die journalistische Aufarbeitung der Stellungnahme bzw. die allgemeine Debatte um den Vortrag von Egon Flaig vor allem auf die Wissenschaftsfreiheit Bezug nimmt, ist an sich schon eine problematische Diskursverschiebung, welche sich insbesondere die politische Rechte zu eigen macht, wenn sie eine Einschränkung der Meinungsfreiheit daherfantasiert [2]. Erkennbar wird diese Problematik unter anderem am Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, in dem auch Egon Flaig organisiert ist, und dessen Argumenten frei nach dem Motto "wenn ich Personengruppen nicht diskriminieren darf, ist meine Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt" [3]. Dabei beziehen sich die Mitglieder des Netzwerkes auf die vermeintliche Objektivität und Neutralität von Wissenschaft. 
 
Diese Debatte um die angebliche Einschränkung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit entbrennt immer dann, wenn es um Aussagen geht, die augenscheinlich nicht auf Gütekriterien von Wissenschaft aufbauen. Stellen wir uns an dieser Stelle daher einmal vor, es ginge hier nicht um menschenverachtende Aussagen sondern um Arbeiten, die den Mindeststandards der Wissenschaft nicht genügen. Dürfte Kritik an der Einladung absolut unwissenschaftlicher Personen nicht geübt werden? Müssten wir zusehen, wie neben renommierten Wissenschaftler*innen auch Wahrsager*innen und Astrolog*innen Raum bekommen, ihre "wissenschaftlichen Theorien" an Universitäten zu verbreiten? Die Absurdität dieses Szenarios zeigt, dass es in dieser Debatte eben nicht um vermeintliche Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit, sondern um die Werte des Wissenschaftsbetriebs geht, die unter anderem den Kriterien zur Sprecher*innenauswahl zu Grunde liegen. Wenn Einigkeit über bestimmte Werte und Kriterien herrscht — wie hier am Beispiel der Wissenschaftlichkeit — ist es eindeutig, dass es keine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit darstellt, Wissenschaftler*innen für die Einladung von Personen zu kritisieren, die diese Kriterien nicht erfüllen. Der Wert der Wissenschaftlichkeit und wie genau er verstanden wird ist allerdings genauso Produkt einer gesellschaftlichen Debatte wie alle anderen potentiell einbringbaren Werte auch — selbst wenn der breite gesellschaftliche Konsens dies in Vergessenheit geraten lässt. Unsere Stellungnahme ist als Beitrag zu eben solch einer Debatte zu verstehen, in dem wir auch die Anwendung von Werten im Wissenschaftsbetrieb verteidigen, die in der vermeintlichen Dichotomie von "politisch" und "wissenschaftlich" klassischerweise dem politischen Spektrum zugeordnet werden.
 
Die Verschiebung zum Thema der Wissenschaftsfreiheit und die Deutung unserer Position als Angriff auf eben diese, relativieren zum einen tatsächliche Angriffe auf eine freie Wissenschaft, wie sie zum Beispiel in der Türkei passieren. Zum anderen bedeutet dieses Verständnis von Wissenschaftsfreiheit zu Ende gedacht auch, dass beispielsweise eine Ablehnung der Wiedereinführung der Rassenlehre im akademischen Raum nicht mit der Wahrung von Wissenschaftsfreiheit vereinbar wäre. Es gibt schließlich gesellschaftliche Veränderungen und Auseinandersetzungen, die, glücklicherweise, menschenfeindliche Ideologien in der Wissenschaft zurückgedrängt haben. Diese Errungenschaften zu verteidigen und voranzutreiben steht in keinem Widerspruch zur Wissenschaftsfreiheit. Wir möchten uns an dieser Stelle allerdings auch nicht weiter auf diese Debatte einlassen, die gesellschaftlich bereits seit Jahren an anderen Stellen geführt wird.
 
Stattdessen wollen wir den öffentlichen Diskurs zurück auf die Inhalte lenken, die wir im universitären Kontext lehren und verbreiten wollen. Wir haben uns eingehend und kritisch mit Flaigs Texten beschäftigt und auch die Studierenden der Geschichte setzen sich kritisch mit seinen Publikationen auseinander. Auch andere Studierendenschaften (z.B. Rostock und Berlin) haben dies bereits getan und resümierten nach Vorträgen von Flaig, dass dieser nicht (wieder) eingeladen werden sollte und innerhalb seiner Lehrveranstaltungen problematische Ansichten vertritt. Wir sprechen hier über die Forderung, menschenverachtenden Aussagen an unserer Universität keinen Raum zu bieten und nicht darüber, Wissenschaftler*innen allgemein den Mund zu verbieten. Wissenschaft ist kein wert- und politikfreier Raum und Kritik kann unterschiedliche Formen annehmen — das Ausladen beziehungsweise Nicht-Einladen bestimmter Sprecher*innen ist eine davon. Als No-Platforming besteht dieses Konzept schon seit den 70ern und richtet sich aus universitärer Perspektive gegen Positionen, welche strenge wissenschaftliche Standards der Wissensproduktion unterlaufen, marginalisierte Personen an Universitäten gefährden oder schlicht menschenfeindlich sind. Diese Aspekte lassen sich verschiedentlich bei Egon Flaig feststellen, wenn er zum Beispiel bezogen auf die Singularität des Holocausts behauptet, dass alles von Natur aus singulär wäre, sogar der "der Rotz in [s]einem Taschentuch" oder wenn er, gegenläufig zu aktueller psychotraumatologischer Forschung, die Traumata und das politische Gedächtnis marginalisierter Gruppen als "physische Zuckungen des eingebildeten Leidens ganzer Kollektive" bezeichnet.
 
Letztlich läuft die in unserer Stellungnahme vertretende Argumentation auf Folgendes hinaus: Wenn wir Menschen einladen, um wissenschaftliche Vorträge zu halten, dann treffen wir zwangsweise eine Auswahl. Wir geben ja nicht allen Menschen und nicht einmal allen Forschenden die Möglichkeit, ihre Theorien oder Ergebnisse an unserer Universität weiterzugeben; bestimmte Wissenschaftler*innen werden also auf Basis verschiedenster Kriterien eingeladen, beispielsweise weil ihre Arbeit für besonders wertvoll und verbreitenswert gehalten wird. Solch einer Einschätzung Egon Flaigs widersprechen wir in unserer Stellungnahme. Seine Aussagen sind unserer Meinung nach eben nicht verbreitenswert und wir möchten schlichtweg nicht, dass die Universität Osnabrück ein Raum ist, an dem menschenverachtenden Aussagen eine Bühne geschaffen wird. 
Wie anfangs beschrieben ist unsere Stellungnahme damit als Beitrag zu der Debatte zu verstehen, welche Kriterien für die Auswahl von Redner*innen an der Universität angewandt werden und angewandt werden sollten. Und zu diesen Kriterien muss eben auch gehören — das ist unsere zentrale Forderung — dass die Redner*innen in ihrer Arbeit nicht ganze Personengruppen und ihre Erfahrungen abwerten. Erschwerend hinzu kommt selbstverständlich, dass es auch unter unseren Studierenden Mitglieder der in diesem Fall betroffenen Personengruppen gibt. Diese sollten nicht zusehen müssen, wie an ihrer Universität Aussagen reproduziert werden, die ihre Existenz in diesen Räumen ablehnen; dass die Universitätsleitung sich in der Presse ebenfalls mit Verweis auf die Wissenschaftsfreiheit unterstützend zu Flaigs Einladung äußert [6], dürfte die Enttäuschung dieser betroffenen Studierenden nur noch verstärken. Gerade von einer Universität, an dem unter anderem ein Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien angesiedelt ist, sollte in diesem Kontext ein höheres Maß an Problembewusstsein zu erwarten sein.
 
Auch die Prüfung von Flaigs Arbeit im Hinblick auf Standards der Wissenschaftlichkeit untermauert die Fragwürdigkeit der ausgesprochenen Einladung. Flaig präsentiert sich gerne als Inhaber der vermeintlich objektiven und absoluten Wahrheit, aus der er immer wieder eindimensionale und verkürzte Erkenntnisse zieht, welche in Teilen der aktuellen Forschung widersprechen; sei es nun zur Gedächtnispolitik, dem Holocaust, der Sklaverei oder dem Kolononialrassismus. Beispielsweise folgert Ulrike Schmieder [4], dass Flaigs Darstellung der Sklaverei verkürzt sei und kaum heterogene Forschungsstände miteinschließe, während Andreas Eckert [5] die Parallelen zwischen Flaigs Argumentation hinsichtlich der Kolonialisierung durch Europa und damaligen Rechtfertigungsstrategien aufzeigt. Diese und ähnliche Kritiken sollten nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn unser zentrales Anliegen die Ablehnung von Flaigs Einladung auf Grundlage der oben beschrieben Werte ist und bleibt.
 
Übrigens scheinen sich die Vorstellungen des Historischen Seminars im Hinblick auf die Werte des Wissenschaftsbetriebs zumindest auf einer abstrakten Ebene mit den unseren zu überschneiden. Im kürzlich neu veröffentlichten Leitbild stellt sich dieses explizit gegen jede Form der Abwertung: "Das Historische Seminar wendet sich gegen jede Form von Ablehnung, Diskriminierung und Stigmatisierung, auch und gerade dann, wenn sie unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit geäußert werden." [7]
 
Dass die Organisator*innen aus diesen Wertevorstellungen nicht auch die notwendigen Konsequenzen in Form einer Ausladung Egon Flaigs ziehen, ist uns weiterhin unverständlich.
 
 
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[2] Mit der Perversion des Meinungsfreiheitsideals und der Delegitimierung von Kritik durch den Vorwurf der "Cancel Culture" haben wir uns im Kontext der Klage von Christoph Gringmuth bereits beschäftigt: https://www.asta.uni-osnabrueck.de/news/2020-13/meinungsfreiheit-und-der-umgang-mit-corona-leugnerinnen
[3] Übrigens: Bis zum vor Kurzem war auch der Name "Mathias Brodkorb" auf der Liste der Mitglieder dieses Netzwerks zu finden. Den Lesenden steht es nun frei, eigene Schlüsse auf Basis dieser Information zu ziehen.
[4]Schmieder, Ulrike (2010): Rezension zu: E. Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei. https://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=13181&view=pdf&pn=rezensionen&type=rezbuecher. Aufgerufen am 17.04.2021
[5] Eckert, Andreas (2012):  Rechtfertigung und Legitimation von Kolonialismus. In: APuZ 44–45/